Im Herbst 2016 durfte ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Bildungsausschuss nach Südamerika reisen. Aus bildungspolitischer Sicht sind die Länder Südamerikas äußerst spannend. Um einen genaueren Blick in die Strukturen und Ursachen des Bildungssystems Lateinamerikas zu bekommen, reisten wir nach Chile und Argentinien. Ich war gespannt – zumal ich das erste Mal in dieser Region unterwegs war. Etwas verspätet, aber ich glaube, immer noch aktuell, möchte ich hier meinen Reisebericht darstellen. Mir ist es ein großes Anliegen, ein paar Kernbotschaften und Erfahrungen der Fahrt zu übermitteln. Die Investitionen unseres Landes in das Observatorium Paranal sind gut angelegtes Geld. Faszinierend zu beobachten, wie junge Deutsche und europäische Forscher Grundlagenforschung in der Wüste im Norden von Chile durchführen. Ihre Kenntnisse und ihr Wissensdurst sind beeindruckend.
Mehr noch haben mich die Erkenntnisse in Chile berührt. Die von Franz Josef Strauß gelobte Militärdiktatur von Pinochet hat ein damalig gut funktionierendes Bildungssystem schwer und nachhaltig geschädigt.
Chile ist ein wunderbares Land und es tut weh, zu sehen, welch niederschmetternde Ergebnisse eine Diktatur allein im Bildungswesen erzeugt und wie nachhaltig sie wirkt.
Bildung muss überall kostenfrei und in jeder Hinsicht barrierefrei für jede und jeden zugänglich sein. Nur in Freiheit kann sich der „Kopf“ entfalten, Lösungsansätze, neue Erkenntnisse und Ideen entfalten. Gerade vor dem Hintergrund der Bereisung von Chile muss unsere ganze Anstrengung darin liegen, Bildung ganzheitlich zu erfassen und zu fördern. Bildung geht zentral in Krippe und Kita los. Daher wird es höchste Zeit, auch diese zentrale, frühkindliche Bildung gebührenfrei zu schalten.
Erste Station: Chile
Das Land im Südwesten Südamerikas erlangte im frühen 19. Jahrhundert die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Spanien und war bis zum Zweiten Weltkrieg geprägt von der Förderung von Salpeter und später Kupfer. Drei Jahre nachdem der Sozialist Salvador Allende 1970 zum Präsidenten gewählt wurde, leitete ein Putsch des Generals Augusto Pinochet eine 17-jährige Diktatur mit radikal marktorientierten Wirtschaftsreformen ein. Seit 1988 befindet sich Chile nun im Übergang zu einer Demokratie. Das neoliberale Wirtschaftssystem von Diktator Augusto Pinochet hinterlässt allerdings bis heute tiefe Spuren und das leider auch im Bildungssystem, wie ich im Laufe unserer Reise feststellte.
Nach einer 30-stündigen Anreise kamen wir am Sonntag endlich in unserer Unterkunft an. Im Jahr 2008 diente dieses Hotel als Kulisse für einige Szenen des James-Bond-Films „Ein Quantum Trost“. James-Bond-Star Daniel Craig wurde hier für den Dreh beherbergt. Der Begriff Hotel ist jedoch irreführend, denn das Gebäude dient hauptsächlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Observatoriums Paranal als Unterkunft. Das Observatorium liegt inmitten der Acatamawüste und wird von der Europäischen Südsternwarte (kurz ESO) betrieben. Auf einem Berg in Höhe von 2.660 Metern befindet sich das Flaggschiff der europäischen Astronomie: das sogenannte Very Large Telescope (VLT). Es ist das größte Teleskop der Welt und besteht aus vier 8,2 Meter großen Teleskopen, die virtuell zusammengeschaltet werden. Kombiniert man alle vier Teleskopeinheiten miteinander, ergibt das ein Teleskop mit einem Durchmesser von unfassbaren 200 Metern. Seit 1999 ist das VLT in Betrieb und liefert seitdem mehr Erkenntnisse als jedes andere Bodenteleskop. Mithilfe dieses Teleskops wurde das erste Mal ein Schwarzes Loch im Herzen unserer Milchstraße entdeckt. Es ist zudem in der Lage, durch Lichtzeitmessung die Relativitätstheorie von Albert Einstein zu bestätigen. Die Grundlagenforschung, die mithilfe des Teleskops betrieben wird, ist beeindruckend. Die Forscherinnen und Forscher des Observatoriums versuchen, der Entstehung des Universums und der Lösung all seiner bislang unerforschten Rätsel endlich näherzukommen.
Abends nutzten wir die Möglichkeit für einen unbeschreiblichen Blick in den Himmel. Denn der Standort des Observatoriums ist dafür bestens geeignet. Eine einmalige Konstellation von geografischen und klimatischen Faktoren führt dazu, dass wir mitten in der Wüste einen staubfreien und wolkenlosen Sternenhimmel genossen. Für mich faszinierend: Ich konnte das Kreuz des Südens, eine Sternenkonstellation der Milchstraße und die beiden Magellanschen Wolken sehen. Einfach unglaublich.

Nach diesem beeindruckenden Besuch, der uns einen spannenden Einblick in die Astronomische Forschungseinrichtung der ESO bot, flogen wir am nächsten Tag in die Hauptstadt Santiago. Sie ist das bedeutendste Wirtschafts- und Kulturzentrum des Landes. Die Stadt beherbergt zahlreiche Universitäten und Hochschulen, darunter mit der Universität Chile eine der ältesten Universitäten auf dem amerikanischen Kontinent. Neben den vielen Universitäten und Hochschulen, die die Stadt zu bieten hat, befindet sich auch die Deutsch-Chilenische Wirtschaftsschule (spanisch: „Instituto Superior Aleman de Comercio“ auch kurz INSALCO). Das Institut wurde 1982 von der Deutschen Schule in Santiago gegründet. Ziel ist es, die duale Ausbildung im kaufmännischen Bereich in Chile zu implementieren. Die Berufsausbildung wird in Chile gesellschaftlich und politisch eher als zweitrangig angesehen. Als „gute“ Ausbildung gilt immer noch ein Studium. Staatliche Investitionen für die Ausbildungsinstitute bleiben weit hinter den Ausgaben für die Universitäten zurück. Das von Deutschland geförderte Institut INSALCO nimmt hier eine Vorreiterrolle ein. Angeboten wird eine zweijährige duale Ausbildung, welche Theorie mit Praxis verbindet. Die Ausbildung verläuft zweisprachig deutsch-spanisch und wird sowohl in Chile, als auch in Deutschland (und damit auch in der EU) anerkannt. Seit der Gründung haben schon 750 junge Menschen dort einen kaufmännischen Abschluss gemacht.

Um ein tieferen Einblick in das Bildungswesen und dessen politische Rahmenbedingungen zu erlangen, besuchten wir das Bildungsministerium. Nach dem Sturz von Salvador Allende führte Pinochet das amerikanische Bildungssystem ein. Durch die Zerschlagung des staatlichen Systems nach 1973 entstand so eine Vielzahl privater Bildungseinrichtungen. Staatliche und kostenlose Bildung wurde zu privater und teurer Bildung. Die negativen Auswirkungen auf das Bildungssystem durch die extreme Deregulierung und Privatisierung sind erschreckend. Mit 18 Millionen Einwohnern und rund 600.000 Hochschulstudenten besitzt Chile ca. 60 Universitäten – 35 davon sind privat. Der Besuch an einem Gymnasium kostet Familien um die 500 Euro im Monat und auch das Studium an einer Universität ist sehr kostspielig. Dasselbe gilt für die Berufsausbildung. Geld, das die meisten Familien und jungen Menschen nicht besitzen. Die Folge: Bildung ist im hohen Maße vom Geld der Eltern abhängig. In den Jahren 2011 und 2012 kam es infolgedessen zu massiven Schüler- und Studentenprotesten, bei denen umfassende Reformen im Bildungssystem gefordert wurden. Präsidentin Michelle Bachelet arbeitet an einem kostenlosen Bildungssystem. Für mich ist kostenfreie Bildung zweifelsfrei eine Grundvoraussetzung, um das Bildungsniveau des Landes anzuheben und vor allem Chancengleichheit zu gewähren. Die Hauptlast der hierzu benötigten Finanzierung müsste allerdings der Staat tragen. Ich bin jedoch skeptisch, ob Chile das Geld dafür aufbringen kann. Klar ist: Private Bildung kann nie zu einer effizienten Breitenbildung führen; eher richtet die Kommerzialisierung von Bildung nur Schaden an.

Unser nächster Stopp auf der Reise war eine kleine Hafenstadt Namens Valparaíso, was auf Deutsch so viel heißt wie „Paradiestal“. Mit seiner Bucht am pazifischen Ozean ist das „Paradiestal“ eine der bedeutendsten Hafenstädte des Landes und Sitz des chilenischen Kongresses. Das Besondere dieser Stadt ist ohne Zweifel dessen kunterbuntes Erscheinungsbild. So etwas habe ich vorher noch nicht gesehen: Unglaubliche Street Art und faszinierende Graffitikunst schmücken die Häuser und Plätze. Hier verewigen sich reisende Künstler aus der ganzen Welt und sorgen für ein eindrucksvolles und originelles Stadtbild. Neben dem künstlerischen Charme wird allerdings auch die finanziell schwierige Lage der Stadt deutlich. Nach der Eröffnung des Panama-Kanals sank die Wirtschaftskraft von Valparaíso. Das Hauptgeschäft – der Salpeterhandel – hatte sich mit der Synthese von Ammoniak erledigt.
Anfang der 80er Jahre wurde die Universität Valparaíso gegründet. Mit knapp 15.000 Studenten ist sie etwas größer als die Universität Osnabrück. 2015 unterzeichnete die Universität Valparaíso eine Kooperationsvereinbarung mit der Max-Planck-Gesellschaft zur Einrichtung von Tandemgruppen. Neben der Forschung zur Entstehung von Planeten und Sternen, soll die Vereinbarung vor allem neue Chancen für den Studentenaustausch eröffnen. In Chile besteht großes Interesse an den von der Max-Planck-Gesellschaft ausgebildeten Wissenschaftlern. Forschung muss, um erfolgreich zu sein, im weltweiten Verbund stattfinden. Institute wie die Max-Planck-Gesellschaft machen es meiner Meinung nach genau richtig. Solche Kooperationen gilt es weiter zu fördern.
Unser straffes Programm sah zum Abschluss einen Besuch im chilenischen Parlament vor. Dort trafen wir den Vizepräsidenten und einige Abgeordnete. Sie erzählten uns, wie schwierig es für die Regierung ist, die gravierenden Fehler der Pinochet-Regierung wieder auszugleichen. Großes Thema ist zurzeit auch die Berufsausbildung. Zaghaft versucht man sich in Richtung eines Berufsbildungsgesetzes zu bewegen. Aber es fehlt eigentlich an jeglicher Struktur. Der Weg, den die chilenische Gesellschaft noch vor sich hat, ist lang.

Nach diesen vielen interessanten Gesprächen, Besuchen und neugewonnen Eindrücken verließen wir Chile und flogen nach Argentinien.
Argentinien
Das Land, das im Westen an Chile angrenzt, wird wirtschaftlich hauptsächlich von der Landwirtschaft, Viehzucht und Rohstoffabbau getragen. 1946 übernahm Juan Perón die Regierung. Es herrschte der sogenannte Peronismus, der für eine staatlich gelenkte Wirtschaft sorgte. In Folge sank das Wirtschaftsniveau des Landes ab. Bis 1983 war das Land von wirtschaftlicher und politischer Instabilität geprägt. Abwechselnd regierten zivile und militärische Regierungen das Land. 1990 fand eine Umkehr dieser Politik hin zu mehr Demokratie statt. Diverse Wirtschaftskrisen erschwerten jedoch diesen Prozess. Im Dezember letzten Jahres trat Mauricio Macri das Amt des Präsidenten an. Durch vielfältige Maßnahmen wird seitdem versucht, die peronistische Ausrichtung durch eine neoliberale zu ersetzen.
Unser erster Halt war die Hauptstadt Buenos Aires. Fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung Argentiniens lebt hier. Hier hat auch der Tango Argentino seinen Ursprung. Buenos Aires ist eine pulsierende, multikulturelle Stadt. Die Architektur erinnert an Paris und auch kulturell ist Buenos Aires von europäischen Einflüssen geprägt. Es gibt ein vielfältiges Angebot an Veranstaltungen in den Bereichen Theater, Musik, Oper, Literatur, Film und Sport.
Anders als in Chile ist das Bildungswesen Argentiniens in staatlichen Händen, wenngleich es auch hier eine hohe Zahl von privaten Bildungseinrichtungen gibt. Das Schulsystem Argentiniens ist durch ein starkes Qualitäts-Gefälle zwischen Großstädten und ländlichen Regionen einerseits und privaten und staatlichen Schulen andererseits geprägt. Man arbeitet daran, diese Probleme zu lösen. Seit Ende der 90er Jahre werden dazu kontinuierliche Qualitätstests durchgeführt. Die argentinische Regierung bemüht sich durch gebührenfreie staatliche Schulen und Universitäten um soziale Durchmischung.
Die Deutsch-Argentinische Industrie und Handelskammer (AHK) engagiert sich seit Jahren im Ausbildungsbereich. Die duale Berufsausbildung nach deutschen Modell wird nach zwei Ausbildungsjahren mit einer Abschlussprüfung vor der AHK nach deutschen Vorschriften abgeschlossen. Die Abschlüsse sind dann in der gesamten EU anerkannt. Bei unserem Besuch in der Handelskammer Buenos Aires trafen wir mit verschiedenen Wirtschaftsvertretern zusammen. Zu Gast war auch der ehemalige österreichische Bundeskanzler Viktor Klima (SPÖ). Wir kamen gleich auf das Thema Berufsausbildung. Viktor Klima ging nach seiner politischen Karriere in Österreich nach Argentinien. Hier war er als langjähriger Berater des damaligen argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner tätig. Er erklärte uns, dass der Gesetzentwurf zur Berufsbildung im Parlament keine Zustimmung fand. Aus Sicht der geladenen Wirtschaftsvertreter und der dortigen Politiker wäre das Duale System ein Gewinn für Argentinien. Um das Thema „berufliche Bildung“ voranzutreiben, führte die AHK im Sommer einen Ausbildungsgipfel in Buenos Aires durch.
Im Anschluss fuhren wir zum argentinischen Parlament und sprachen mit Senator Omar Perotti und weiteren Parlamentariern. Das Gespräch machte deutlich, dass Argentinien durch die ideologische Haltung der Peronisten nicht nur gewonnen hat. Bis heute ist der Peronismus eine prägende politische Kraft Argentiniens.

Nach einer Führung durch das Parlament und einem Mittagessen im Kongress fuhren wir zum Wissenschaftsministerium. Dort trafen wir den Direktor für internationale Zusammenarbeit, der uns die forschungspolitischen Zielsetzungen der Regierung vorstellte. Hier wurde deutlich, dass Argentinien eine gute wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland pflegt. Die Helmholz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft und die Institute der Fraunhofer-Gesellschaft kooperieren in vielen Bereichen mit argentinischen Institutionen. Hierbei wird der Fokus vermehrt auf die anwendungsorientierte Wissenschaft gelegt.
Am Abend wurden wir zum Essen in die Residenz des deutschen Botschafters eingeladen. Ich saß neben Viktor Klima und wir führten eine spannende Unterhaltung über VW. Mehrere Jahre leitete er für den VW-Konzern die Volkswagen Argentina S.A. und war Mitglied der Konzernleitung für Südamerika. Ebenso intensiv sprachen wir über die Lage der Sozialdemokratie in Europa. Es war ein interessanter Abend für mich.
Im Bildungsministerium am nächsten Morgen trafen wir den Staatssekretär für Hochschulpolitik, Prof. Albor Cantard. Er erläuterte uns das Hochschulsystem Argentiniens. Wir sprachen über die gegenseitige Anerkennung der Hochschulzugangsberechtigungen und über eine Zusammenarbeit, sowohl in der Lehrerausbildung, als auch in der beruflichen Bildung. Als Beispiel wurde das Deutsch-Argentinische Hochschulzentrum (DAHZ) genannt. Das Zentrum fördert innovative Studienprogramme, z.B. binationale Studiengänge, die zu einem Doppelabschluss führen. Das Land macht sich langsam auf den Weg zum Bologna-Prozess. Argentinien wünscht von Deutschland, dass das Thema Bildung auf die G20-Agenda gesetzt wird.
Nach einem Besuch einer Universität und einer Führung durch das Argentina-German Geodetic Observatory (AGGO) endete eine spannende, aufschlussreiche und sehr intensive Reise. Die vielen verschiedenen Informationen und spannenden Eindrücke müssen jetzt erst einmal verarbeitet werden.
Wenn ich über die Probleme in Argentinien und Chile nachdenke, wird mir wieder einmal bewusst, dass Deutschland eines der besten und effektivsten Bildungssysteme der Welt hat. Die beiden lateinamerikanischen Länder haben noch einen langen Weg vor sich. Bemerkenswert ist der Unterschied zwischen einem staatlichen Bildungssystem wie in Argentinien und einem privaten System wie in Chile. Was mich besonders überrascht und gefreut hat, ist der intensive wissenschaftliche Austausch mit deutschen Forschungsinstituten. Das ist aus meiner Sicht unglaublich wichtig, um gute Forschung zu betreiben und ein stetigen Austausch in der Wissenschaft zu fördern.